Interview mit Derek Sivers
Author and entrepreneur
von Tim Ferriss • 2023-04-21

In einer gemütlichen Ecke von Wellington, Neuseeland, bei Schlucken von Scotch und Go Go Goa Schwarztee, führten Tim Ferriss und Derek Sivers ein Gespräch, das sich weniger wie ein Interview anfühlte, sondern eher wie das Belauschen zweier brillanter Köpfe. Was sich entfaltete, war ein tiefer Einblick in Sivers's unverwechselbaren Ansatz für Leben, Geschäft und Technologie – eine Philosophie, die tief in Intentionalität, radikaler Selbstständigkeit und einem überraschend fließenden Identitätsgefühl verwurzelt ist. Ferriss, stets der scharfsinnige Interviewer, führte Sivers durch eine Reihe von Anekdoten und Enthüllungen, die die Zuhörer dazu brachten, ihre eigenen Entscheidungen und Annahmen zu überdenken.
Die Philosophie des "Genug": Bewussten Minimalismus annehmen
Von dem Moment an, als die Mikrofone angeschaltet wurden, wurde Sivers's Engagement für den Minimalismus deutlich. Ferriss hob mit einem wissenden Grinsen Sivers's Haushaltsinventar hervor: „Wenn Sie Dereks Küche betreten würden, würden Sie eine breite Auswahl an Gläsern finden, nämlich... ein einziges weiteres Glas. Es gibt nur drei Gläser.“ Sivers fügte ungerührt hinzu: „Und das ist meine einzige Hose.“ Dies war keine Sparsamkeit um der Sparsamkeit willen, sondern ein tiefes Bekenntnis zu dem, was wirklich nützt, den Überfluss abzulegen, der oft die Entscheidungsfreiheit lähmt.
Diese bewusste Reduzierung der Optionen geht über physischen Besitz hinaus. Sivers teilte auch seinen bewussten Ansatz bei der Berufsbekleidung, indem er die erfahrenen Schneider von Michael Browne in London beauftragte, ihn einzukleiden. Anstatt unzählige Anzüge durchzusehen, fragte er einfach: „Sie sind der Experte. Wissen Sie, kleiden Sie mich einfach ein.“ Diese Entscheidungsdelegation, besonders in Bereichen, in denen ihm Fachwissen oder eine starke Präferenz fehlten, unterstrich seine Philosophie, ein „Satisficer“ statt eines „Maximizer“ zu sein. Das Gespräch kam auf eine starke Idee zurück, die Ferriss in Kevin Kellys „Excellent Advice for Living“ begegnet war: „Kennen Sie das, wenn Sie so einen schlechten Stift haben? Werfen Sie den schlechten Stift weg.“ Sivers stimmte von ganzem Herzen zu und fügte dem Akt eine Ebene des Selbstrespekts hinzu: „Es geht um Selbstachtung, nicht wahr? Selbst bei etwas so Einfachem wie einem Stift. Als ich das getan habe, dachte ich: ‚Ich bin besser als das. Das lasse ich nicht zu. Dieser Stift wird nicht länger über mich herrschen.‘“
Schlüsselpraktiken:
- Radikale Genügsamkeit: Mit dem leben, was wirklich benötigt und funktional ist (z.B. drei Gläser, eine Hose, zwei Anzüge).
- Die Wahl an Experten delegieren: Wenn eine Entscheidung kein Kernwert oder keine Leidenschaft ist, überlässt Sivers sie vertrauenswürdigen Experten, um Entscheidungsermüdung zu reduzieren.
- „Schlechte Stifte“ eliminieren: Alles entfernen, was einen Mindeststandard an Qualität oder Nutzen nicht erfüllt, und dies als Akt der Selbstachtung betrachten.
Identität neu definieren: Die unfreiwilligen Verschiebungen des Lebens
Einer der tiefgründigsten Abschnitte des Interviews drehte sich um ein dramatisches Taucherlebnis in Island, das Sivers's Verständnis von Identität und Empathie grundlegend neu formte. Zuerst ging er mit Zuversicht an den Tauchgang heran, doch die Klaustrophobie des Trockenanzugs und die kalten, dunklen Ozeantiefen lösten eine unerwartete Panikattacke aus. Er tippte seinen Tauchlehrer an, tauchte auf und erklärte: „Ich will nicht. Ich gehe jetzt einfach. Geht ihr voran. Ich warte hier an der Seite.“ Sein Tauchlehrer, mit bemerkenswerter Ruhe, beruhigte ihn und ermutigte ihn: „Entspann dich einfach für einen Moment. Alles ist in Ordnung.“
Am nächsten Tag, bei seinem ersten zertifizierten Tauchgang, fand sich Sivers dabei wieder, wie er eine deutsche Taucherin im exakt gleichen panischen Zustand erlebte, in dem er selbst gewesen war. Ohne Zögern imitierte er die ruhige Beruhigung seines Tauchlehrers, sie an die Oberfläche führend und ihr helfend, sich zu beruhigen. Diese Erfahrung führte zu einer kraftvollen Offenbarung: „Ich habe keinen Respekt vor Menschen, die Panikattacken haben! ... Aber ich hatte gerade selbst eine Panikattacke, und sie war unfreiwillig.“ Er erkannte, dass er Menschen unfair kategorisiert hatte – die „deprimierten“, „dicken“ oder „Süchtigen“ – und dabei dachte: „Ich wäre niemals so etwas. Ich bin nicht diese Art von Mensch.“ Doch, genau wie man zu einem „Panikattacken-Menschen“ werden konnte, konnte man auch unfreiwillig in Kategorien mit positiven Konnotationen geraten, wie „Held“ oder „Retter“, einfach indem man mit Präsenz und Nachahmung handelte.
Schlüsselerkenntnisse:
- Fluidität der Identität: Erkennen, dass Identitäten, sowohl positive als auch negative (z.B. „Panikattacken-Mensch“, „Held“), unfreiwillig und temporär sein können.
- Empathie durch Erfahrung: Anerkennen, dass das Kategorisieren von Menschen (z.B. „Süchtiger“, „deprimiert“) oft unfair ist, da Umstände und unfreiwillige Verschiebungen jeden in diese Kategorien bringen können.
- Die Macht der Nachahmung: Bewusst in gewünschte Rollen schlüpfen (wie die eines Retters), indem man positive Beispiele abruft und nachahmt.
Das sich entwickelnde Selbst und Ihr „Menschen-Kompass“
Sivers setzte diese Erforschung der Identität fort, indem er erörterte, wie er seine eigenen Etiketten betrachtet, nicht als feste Zustände, sondern als temporäre Präferenzen oder Errungenschaften, die kontinuierlich verdient werden müssen. Wenn sein Sohn erklärt: „Ich hasse Tomaten“, korrigiert Sivers ihn: „heute.“ Dieser einfache Zusatz lässt Raum für zukünftige Veränderungen, wie sich zeigte, als sein Sohn später Oliven, ein Lebensmittel, das Sivers selbst verabscheut, mochte. Sivers bemerkte: „Ich liebe dieses Wechseln zwischen Identitäten.“
Er wandte dies dann auf seine eigene berufliche Identität an. Nachdem er jahrelang als Unternehmer bekannt war, erkannte er, dass sich das Etikett „abgelaufen“ anfühlte. Er begann, sich als Schriftsteller zu sehen, eine Verschiebung, die von dem geleitet wurde, was er seinen „Menschen-Kompass“ nennt. „Letztendlich wollen wir unser ideales Selbst sein, richtig? Und dass Ihre Helden Ihr idealisiertes Selbst sind, richtig? Deshalb vergöttern wir bestimmte Menschen, weil wir wie sie sein wollen. Das offenbart also, was Ihre Werte sind.“ Indem er sich an seinen bewunderten Autoren orientierte, verstand er seine wahre Berufung. Dieser „Menschen-Kompass“ leitet auch seine unternehmerischen Instinkte: Wähle, Menschen zu dienen, um die du wirklich gerne bist. Er sinnierte über sein nächstes Vorhaben: „100-Jahre-Hosting – Legacy Personal Websites“, ein Dienst, der für „die Art von Menschen“ entwickelt wurde, „die Technologie um ihrer selbst willen genießen“ – Menschen, denen er „stolz dienen“ würde, selbst wenn es nicht viel einbringen würde.
Schlüsseländerungen:
- Temporäre Etiketten: Selbst zugewiesene Etiketten (z.B. „Unternehmer“, „Musiker“) als ablaufende Titel betrachten, die kontinuierlich verdient werden müssen.
- „Menschen-Kompass“ für Orientierung: Die Bewunderung für andere nutzen, um persönliche Werte zu offenbaren und Lebens- und Geschäftsentscheidungen zu leiten.
- Kundenorientiertes Unternehmertum: Das Dienen von Menschen, die man wirklich mag, priorisieren, selbst über die Gewinnmaximierung hinaus.
Digitale Autonomie zurückgewinnen: Das Plädoyer für Selbstständigkeit in der Tech-Branche
Die vielleicht radikalste Abkehr von der konventionellen Weisheit kam, als Sivers sein leidenschaftliches Plädoyer für „Tech-Unabhängigkeit“ und „Flucht aus der Cloud“ hielt. Er malte die „Cloud“ als einen „Clown“, die Gefahren der Abhängigkeit mit einer beängstigenden Anekdote hervorhebend: Ein technikaffiner Freund verlor zehn Jahre der Fotos seines Kindes von Google Photos nach einer versehentlichen Kontozusammenführung. „Er hat keine Fotos seines Kindes von 0 bis 10 Jahren, weil er dem Clown vertraute“, beklagte Sivers.
Seine Lösung? Eine eigene digitale Infrastruktur aufzubauen. Er entmystifizierte den Prozess und schlug einen 5-Dollar/Monat Virtual Private Server oder sogar einen alten Laptop vor, der OpenBSD ausführt – ein „super einfaches“ und „höllisch sicheres“ Betriebssystem mit wenigen Codezeilen. Er skizzierte Schritte wie die Verwendung von SSH-Schlüsseln für sichere Anmeldungen, das Einrichten einer Firewall und das Erwerben eines Domainnamens von angesehenen, „nerdigen“ Registraren. Für wesentliche Dienste empfahl er Open-Source-Alternativen wie Radicale für Kontakte und Kalender sowie rsync oder Syncthing für die Dateisynchronisierung. Sivers betonte, wie wichtig es sei, zu wissen: „dass meine Kontakte nicht an andere Leute gesendet werden, und dass man es dann selbst gesichert hat.“ Er forderte die Zuhörer sogar auf, gängige Plattformen wie WordPress zu vermeiden, nicht weil sie von Natur aus schlecht sind, sondern weil ihre Komplexität Menschen davon abhalten kann, die einfachen HTML-Grundlagen zu lernen, die wahres Verständnis und Kontrolle ermöglichen. „Es geht um Abhängigkeit! Es geht um die Selbstständigkeit!“, erklärte er leidenschaftlich.
Schlüsselpraktiken:
- Persönlicher Serverbesitz: Einrichten eines 5-Dollar/Monat Virtual Private Servers oder dedizierter Hardware für die vollständige Kontrolle über Daten.
- Open-Source-Sicherheit: Verwendung sicherer Betriebssysteme wie OpenBSD, SSH-Schlüssel und Firewalls zum Schutz persönlicher Daten.
- Dezentrales Datenmanagement: Tools wie Radicale für Kontakte/Kalender und rsync/Syncthing für die Dateisynchronisierung verwenden, um die Abhängigkeit von Unternehmens-Cloud-Diensten zu vermeiden.
- Grundlagen verstehen: Grundlegendes HTML lernen, um persönliche Websites zu erstellen, anstatt sich ausschließlich auf komplexe, funktionsreiche Plattformen zu verlassen.
Derek Sivers, in seinem offenen Gespräch mit Tim Ferriss, bot eine überzeugende Vision eines Lebens, das mit bewusster Absicht geführt wird. Von den wenigen Besitztümern in seiner Küche bis zur komplexen Einrichtung seines digitalen Lebens ist jede Entscheidung ein Zeugnis von Autonomie, Neugier und einem tiefen Respekt für persönliche Handlungsfähigkeit.
„Ich denke nur daran, genug zu haben.“ – Derek Sivers


